Expertinnen und Experten zeigen sich besorgt um das Schweizer Bildungssystem, weil die Maturitätsquote zu explodieren scheint und dadurch eine zunehmende Akademisierung befürchtet wird. Doch näher betrachtet, ergibt sich ein anderes Bild. Es wird nämlich klar, dass die gymnasiale Maturitätsquote seit 20 Jahren praktisch gleich geblieben ist. Die hohen Zahlen sind auf die Berufsmaturität und nur zu einem geringen Teil auf die Fachmaturität zurückzuführen. Denn die Ausgelernten mit einer Berufsmaturität orientieren sich am Arbeitsmarkt, dessen Ansprüche steigen. Der Arbeitsmarkt verlangt nicht nur mehr Kompetenzen, er ist auch bereit, mehr für höher Ausgebildete zu bezahlen.
Bildung: Die Mär von der Akademisierung
Die oft beklagte Tertiarisierung des Schweizer Arbeitsmarktes ist nicht mit einer Akademisierung des Bildungswesens gleichzusetzen. Die Maturitätsquote ist primär eine Folge der Einführung der Berufsmaturität.
Wenn sich immer mehr junge Leute für ein Studium entscheiden, so hat dies handfeste ökonomische Gründe.
Expertinnen und Experten schlagen in den Medien Alarm und weisen auf explodierende Maturitätsquoten, ein erodierendes Berufsbildungssystem und an den Marktbedürfnissen vorbei ausgebildete Studenten hin. Die Katastrophenmeldungen gipfeln in der Empfehlung an die Bildungspolitik, doch dringend über die Bücher zu gehen.
Interessanterweise halten diese Äusserungen aber den einfachsten Faktenchecks nicht stand. Beginnen wir beim Gymnasium, wo die Maturitätsquote seit 20 Jahren praktisch stagniert. In 20 Jahren hat sie sich von leicht unter 20 auf leicht über 20 Prozent verändert. Woher kommt nun aber das Stammtischgefühl, dass heute jede und jeder eine Maturität hat?
Erosion der Berufsbildung verhindert
Die totale Maturitätsquote ist in den letzten 25 Jahren in der Tat «explodiert» und beträgt heute über 45 Prozent. Nur, das Wachstum der gesamten Maturitätsquote ist fast vollständig auf die Einführung der Berufsmaturität und später zu einem geringeren Anteil auf jene der Fachmaturitäten zurückzuführen.
Wer will, kann nun die Einführung der Berufsmaturität als Schritt hin zu einer Akademisierung der Bildung bezeichnen. Wohl eher muss festgestellt werden, dass ohne die Möglichkeit, sich über die Berufsbildung für eine tertiäre Bildung qualifizieren zu können, eine Erosion der Berufsbildung eingetreten wäre.
Mit welchen Argumenten hätte man Firmen überzeugen können, auch weiterhin in anspruchsvollen Berufen Lehrstellen anzubieten, wenn die Talente alle ins Gymnasium abgewandert wären? Und schliesslich ist noch darauf hinzuweisen, dass in der Tertiärstufe des Schweizer Bildungssystems mit der höheren Berufsbildung Abschlüsse auch ganz ohne Maturität erlangt werden können.
Die Folge ist, dass die Schweiz wohl das einzige OECD-Land ist, welches zu den Spitzenreitern in Sachen tertiärer Bildungsabschlüsse aufgestiegen ist, ohne dafür die gymnasiale Maturitätsquote merklich anheben zu müssen.
Die tatsächlich eingetretene Tertiarisierung des Schweizer Arbeitsmarktes ist deshalb nicht mit einer Akademisierung des Bildungswesens gleichzusetzen.
Zugegeben, der Pflegefachmann oder die Informatikerin, die nun an einer Fachhochschule oder einer höheren Fachschule ihre tertiäre Ausbildung fortsetzen, fehlen auf ihrem angestammten Arbeitsplatz. Kann man daraus schliessen, dass die Bildungspolitik mit dem Ausbau der tertiären Bildungsangebote versagt hat? Mitnichten, denn im Gegensatz zu den allgemeinbildenden Abschlüssen verfügen Berufsmaturandinnen über einen Berufsabschluss, der ihnen ein ökonomisches Auskommen garantiert, für welches nicht zwingend ein Studium notwenidg ist.
Anpassung an den Arbeitsmarkt
Wenn sich also immer mehr junge Leute für ein Studium entscheiden, muss es handfeste, auch ökonomische Gründe haben. Sie reagieren auf die Signale des Arbeitsmarktes, welcher immer deutlicher nach mehr Ausbildung verlangt, weil in der Mehrheit der Berufe immer häufiger sogenannte geistige Nichtroutinetätigkeiten ausgeübt werden, wofür eine längere Ausbildung eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung darstellt.
Dies ist aber noch kein Beweis dafür, dass das tertiäre Bildungswesen diese Erwartungen auch erfüllt und nicht bloss wohlklingende Titel für Kompetenzen verleiht, die niemand will.
Was tut die Ökonomie, um diese Frage zu beantworten? Sie schaut sich die Bildungsrenditen an, und diese sind seit den 1990er Jahren unverändert hoch geblieben, obwohl sich der Anteil der tertiären Bildungsabschlüsse mehr als verdoppelt hat. Ein indirekter Beweis, aber zumindest in der Privatwirtschaft wäre eine Unternehmung nicht lange bereit, für höhere Abschlüsse einen Aufschlag zu entrichten, wenn die Produktivität nicht entsprechend höher wäre.
Deshalb sollten wir, statt eine nicht existierende Akademisierung zu beklagen, den jungen Leuten von heute dankbar sein, dass sie freiwillig auf Jahre von Einkommen verzichten. Denn diesen individuellen Investitionen ist es zu verdanken, wenn die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes auch morgen noch hoch ist.
Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/bildung-die-maer-von-der-akademisierung-ld.1697651?reduced=true